Schrumpfende Grenzen

Samstag, 04. Mai 2012.“Ey, kommste mit ins Bebel? Da is' heut nur zwei Euro Eintritt und hier is eh nichts los!“ Ich schaute in Joe's eisblaue Augen und zuckte mit meinen schwarz gekleideten Schultern. Eigentlich hatte sie recht, denn wir waren seit Stunden im zugequalmten Scandale und ER war sowieso nicht mehr da. „Komm schon mit. Ben ist schon draußen und wartet auf uns!“ Naja welche Wahl hatte ich denn da noch? Ben ließ mich an diesen Abend bei sich nächtigen, also konnte ich so oder so nichts machen. Meine Lust im strömenden Regen nach Hause zu laufen hielt sich sehr in Grenzen, denn nass werden war eigentlich nicht das Ziel des Abends. Doch die Entfernung zwischen Bebel und Scandale machte mir einen Strich durch die Rechnung. Obwohl es Anfang Mai und entsprechend mild war, war ich nach zwanzigminütigen Fußmarsch bis auf die Knochen durchgefrohren. Froh, meine aufgeweichte Jacke ausziehen zu können betrat ich die düstere Bar. Das Bebel war größer und vor allem nicht so überfüllt wie das Scandale und als ich mich umsah waren Joe und Ben plötzlich verschwunden. Ich bewegte mich auf einen rustikalen runden Tisch zu und ließ mich dankbar auf den nebenstehenden Stuhl fallen. Aber allein und unsichtbar in einer fremden Stadt in einer fremden Bar zu sitzen erfüllte mich nicht sonderlich mit Freude. Bis ich mir meine gefühlt tausendste Zigarette des Abends anzündete und IHN plötzlich sah. Lange, dünne Beine. Schwarze Hosen, spitze Schuhe. Blonde Locken, graues Shirt. Tanzend. Er hatte absolut keine Ahnung, was er in diesem Moment für eine Macht über mich hatte. Nach minutenlangen In-Seine-Richtung-Starren saß Ben wie aus dem Nichts neben mir am Tisch. Wie lang er schon dasaß konnte ich beim besten Willen nicht sagen. „Was los, Schnalle?“ Ich antwortete nicht und schließlich folgte er meinem Blick. Ein Grinsen verzog seine Lippen. „Na, der wäre was für dich, wa?“ Ich antwortete mit einen undefinierbaren Geräusch und sagte weiter nichts dazu. Ich saugte ihn regelrecht auf. Wenn ich ihn so weiter hätte zusehen können, wäre der Abend doch noch halbwegs gelungen. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Ich war im Begriff eine Grenze zu überschreiten, die ich mir einst selbst gesetzt hatte. Sicher, in meiner Beziehung lief es nicht gut, aber das war noch lang kein Grund einen anderen Menschen so anzusehen, wie ich es an diesen Abend tat. Zumindest dachte ich das immer. In Wahrheit nahm ich diesen Menschen, der nicht einmal mit mir gesprochen hatte, in mich auf und es vergingen fünf Monate bis ich das Glück hatte, ihn wieder zu treffen.

1 Kommentar:

  1. Der Titel „Schrumpfende Grenzen“ ist sehr gut gewählt.
    Und das Ende ist wirklich raffiniert. Mit dem Hinweis auf die
    5 Monate erweckst Du wieder gespannte Erwartung.
    Ein wenig missverständlich ist vielleicht, dass Du ziemlich
    am Anfang schreibst, Du hättest keine Lust im strömenden
    Regen nach Hause zu laufen, unten aber von einer
    fremden Bar in einer fremden Stadt schreibst.
    Das ist aber nur eine unwesentliche Formalie, man weiß ja,
    dass der Teil in Cottbus spielt und Du bei Ben nächtigst.
    Aber mir ging es so, dass ich an dieser Stelle gestockt habe
    und mich gefragt habe, wo ist diese Anni eigentlich zu Hause.
    Nicht im geografischen sondern im symbolischen Sinn.
    Ich denke, das ist eine der Stärken Deines Schreibstils :
    Der ganze Text ist wieder sehr gut geschrieben, aber
    es passiert ja eigentlich wenig und es sind auch keine
    Passagen drin, die so atemberaubend formuliert sind,
    dass man mit offenen Mund staunt.
    Und trotzdem ist da irgendetwas, das einen irgendwie
    magisch in die Geschichte zieht.
    So zu schreiben kann man auch bei keinem Workshop lernen,
    das ist ein Talent, das man entweder hat oder nicht,
    ich betrachte diese Mischung aus Coolness und Melancholie
    als ziemlich berauschenden Cocktail.
    Immer bevor ich anfange ein neues Kapitel zu lesen, stellt
    sich so ein gewisses Kribbeln ein, wie in einem Psycho-Thriller,
    wo die Kamera langsam auf die nächste Ecke zufährt
    und man sich fragt was dahinter wohl lauern mag.
    Nach den bisherigen Erfahrungen kann man sich nur schwer
    ein Kapitel vorstellen, das mal im hellsten Sonnenschein auf
    einer grünen Wiese statt in verräucherten Bars spielt und in
    dem Annie mal einfach glücklich und zufrieden ist.
    Und wenn man dann als Leser in diesen leicht morbiden
    Rausch gezogen wird, in dem man wie ein Nachtfalter
    mit Anni durch die Nacht treibt, vergisst man beinahe
    ihr ein sonniges Happyend zu wünschen.
    Schön verstörend. Verstörend schön.

    Tom

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