Die Leiter zur Erinnerung

Irgendwann 2012. Der Schlüssel steckt und ich schließe, aus dreijähriger Angewohnheit, die Tür auf. Meine Tasche, vollgestopft mit WICHTIGEN Sachen – Laptop, Kamera, Schminke und Klamotten – landet mit einem Fluchen auf dem Boden. Es ist still hier, nur aus dem Wohnzimmer, am Ende des Hauses, zwischen Flur und Küche, dringen die leisen Geräusche des Fernsehers an meine Ohren. Seine Mutter steht in der Küche und jetzt kann ich auch das Blubbern der Kaffeemaschine hören und die frisch gemahlenen Bohnen riechen. Sie lehnt sich nach hinten um mich richtig sehen zu können und grinst mich an. „Naaaaaaaa!“ Ich antworte mit einem Winken meiner rechten Hand, während ich mit meiner linken versuche den klemmenden Reißverschluss meines Stiefels zu lösen und mir dabei nur mit Mühe ein weiteres Fluchen unterdrücken kann. „Ist er oben?“ Sie verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern. „Ja. Der pennt oder zockt, so wie immer.“ Mein Grinsen wird etwas gequälter, kommt mir zumindest so vor. „Typisch. Ich bin dann mal oben.“ Ich schleppe meine Sachen den Flur entlang und öffne die Tür, die zu seinem Zimmer führt und mich mit dem Schild „Regierungsbezirk CHRIS – mein Wort ist hier Gesetz!“ begrüßt. Der Vorraum ist nur drei Quadratmeter groß, lediglich der Spiegel, den ich zum Schminken benutze hängt an der Wand direkt gegenüber der Tür. Es ist still und ich lasse meinen Krempel erneut auf den Boden plumpsen, wo er aber für die nächsten paar Stunden liegen bleiben würde. Die Treppe, die eigentlich eine Leiter werden wollte, liegt ein wenig versteckt um die Ecke. Jedes mal wenn ich vor ihr stehe, erinnere ich mich an die damals noch guten Zeiten, an die mindestens zweitausend Mal, die ich hier heruntergepurzelt bin, weil diese Halb-Treppe-Halb-Leiter einfach viel zu steil war. Dann rufe ich seinen Namen, obwohl ich schon weiß, dass keine Antwort kommen wird. Als ich, mittlerweile sehr gut in Übung, die Leiter hochklettere begrüßt mich das leise Summen des PC's. Das Zimmer ist warm, alle Rollläden sind heruntergezogen und ich sehe ihn nicht. Das ist leicht zu erklären, denn er liegt im Bett hinter mir, auf der anderen Seite des Raumes und schläft. Ich drehe mich um und sehe ihn, obwohl er unter der Decke vergraben ist. Mit leisen Schritten bewege ich mich zum Bett und setze mich auf den Rand. Er zuckt kurz, als ich mit der Hand seinen Nacken streichle. Sein Schlaf ist unruhig, so wie immer. Er registriert jede Bewegung. Das so ziemlich Einzige, was so geblieben ist. Der Rest hat sich über die Jahre verfremdet, zumindest für mich. Manchmal wünschte ich, dass ich mit ihm reden könnte, aber das ist leider nicht möglich. Früher habe ich mir eingeredet, dass ich ihn schützen muss. Heute weiß ich es besser. Die schlichte und erschütternde Antwort darauf ist einfach, dass ich feige bin. Feige und egoistisch, weil ich ihm nicht die Wahrheit sagen kann. Ich weiß nicht, wie lang ich noch so dasitzen werde und versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht.

1 Kommentar:

  1. Hallo Anni,

    ich muss gestehen, ich schaue doch jeden Tag hier vorbei,
    um zu sehen ob und wie es weiter geht und das ist – was
    Deine schriftstellerischen Fähigkeiten betrifft – eindeutig
    ein gutes Zeichen.
    Schon der Titel „Die Leiter zur Erinnerung“ gefällt mir und
    was dann folgt, ist Dir meines Erachtens ausgesprochen gut
    gelungen. Deine Art zu erzählen gefällt mir, dieser aufmerksame
    Blick für Details, die gelungenen Beschreibungen, ohne dabei
    aber geschwätzig zu werden.
    Die Dosierung stimmt haargenau und ein großer Pluspunkt, der
    sich wie ein roter Faden durch alle bisher geschriebenen Beiträge
    zieht, ist das Geheimnisvolle, das den Leser bei der Stange hält.
    Immer wenn das Gefühl aufkommt man könnte die Geschichte
    greifen, entschwindet sie doch irgendwie um die nächste Ecke.
    Man denkt sich etwas und weiß doch nicht, ob es wirklich das
    richtige ist.
    Ist „Chris“ jetzt der Verantwortliche für die „Beziehungswüste“
    oder nicht ?
    Und was ist mit ihm los ? Ist er krank ? Offensichtlich kann er
    noch am PC zocken, aber irgendwie liest sich das so, als
    wäre irgendwie an sein Zimmer gefesselt.
    Es ist nicht möglich mit ihm zu reden. Auch das ist sehr
    zweideutig. Kann man wirklich nicht mit ihm reden (weil er
    aufgrund einer Erkrankung nicht dazu in der Lage ist)
    oder ist damit einfach die oftmals gestörte grundsätzliche
    Kommunikationsfähigkeit zwischen Mann und Frau gemeint.
    Gerade im Hinblick auf die Bemerkung („Früher habe ich mir
    eingeredet dass ich ihn schützen muss“), scheint doch etwas
    ernsteres mit ihm zu sein.
    Und was ist die Wahrheit, die man ihm nicht sagen kann ?
    Dass man einen anderen hat ?
    Ich finde es faszinierend, wie Du mit solchen Andeutungen
    die Spannung hoch hältst.
    Wenn Du auf diesem Niveau weiter schreibst, wird das alles sich
    irgendwann zu einem fantastischen Buch zusammenfügen.
    Wenn es dann mal soweit ist, würde mich interessieren,
    ob die Lektorin/der Lektor Dir rät die Geschichte chronologischer
    zu erzählen. Grundsätzlich sollte der Wechsel zwischen
    verschiedenen Zeitebenen kein Problem sein, aber da die
    Kapitel sehr kurz sind, springt man entsprechend oft.
    Ich finde das bisher gut, allein schon aus dem Grund, weil man
    sich wirklich mit der Geschichte beschäftigen muss und sie
    nicht einfach nur überfliegen kann.
    Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass man in einem
    Verlag, wo man zielgruppenorientiert denken muss, der
    Ansicht ist, Du solltest es dem Leser einfacher machen.
    Dazu kann ich nur sagen : Keinesfalls.
    Du hast jetzt schon einen sehr eigenen Stil, der sich mit
    Sicherheit noch entwickeln wird, danach suchen viele
    verzweifelt und oft auch vergebens.
    Die „Anni“ aus Alltagsirrtümer ist jemand, der es seiner Umwelt
    nicht einfach macht, das sollte die Schriftstellerin „Anni“
    auch nicht, also mach genau so weiter wie bisher, das ist stark.
    Ich wollte gar nicht so viel schreiben, aber es gibt halt doch
    immer einiges zu Deinen Kapiteln zu sagen.

    Alles Liebe
    Tom

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